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Carlo, San Borondón

Kein Seglergarn:
Die Bruden av Mandal
5. Kapitel


              

Die nachfolgende Geschichte ist frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit anderen Berichten oder Erzählungen ist rein zufällig. Gleiches gilt für die verwendeten Namen, Bezeichnungen, Techniken und geografischen Orte

"Wie heißt das Land hier" fragte Spencer unvermittelt und wandte den Kopf leicht nach Backbord? Er saß, seine Knie zum Kinn hochgezogen, mit dem Rücken gegen das Deckshaus gelehnt. Sein langer Bart verbarg die Beine. Wahrscheinlich hatte er die Arme um die Knie geschlungen. Gru versuchte, die fahle, schemenhafte Gestalt zu erkennen, wenn der Schein des Leuchtfeuers vorüberhuschte. Sie erkannte kurz Augen, die an ihr hingen, und hatte wieder das Gefühl einer Verbindung, oder war es eher eine Verpflichtung, die sie auf sich genommen hatte? - "El Hierro - wir sind hier in Südwesten der Insel - ja es ist eine Insel. Hier gibt es nur Inseln!" - Sie hatte den Piloten mit dem Kurs nach La Restinga versorgt und es sich auf der Heckbank mit einigen Kissen bequem gemacht. Ab und zu reckte sie sich hoch und blickte in die Dunkelheit. An Backbord zog sich die Küste mit ihren vereinzelten Lichtern in die Bucht zurück und ueberließ die Nacht der Sternenpracht. Im Schein der Hecklaterne schnitt das Dingi leicht durch das Kielwasser der Bruden. Zwischen den beiden Menschen spannte sich die Erwartung.
"Ich komme auch von einer Insel." Spencer ließ seine Beine los und richtete sich auf. Er fasste nach oben und griff in die Bändsel des Großbaums. "Du musst heute Morgen die Insel gesehen haben, bevor ihr mich aufgesammelt habt. Sie lag weiter westlich!" Für die Dauer eines Atemzugs hatte Gru ein Gefühl als ob ihr Herz stehen blieb. Unwillkürlich blickte sie zurück und heftete ihre Gedanken über das Dingi hinaus an die dunkle Weite. Sie griff sich in die Haare und schüttelte den Kopf als das Bild eines bergigen Eilands aus ihrer Erinnerung auftauchte. Ihre Empfindungen sprangen zwischen Ablehnung und Zuneigung hin und her bis sie schließlich ausbrach: "Du sagst, du kommst von der Insel - da draußen!?" Spencer hatte es zu der Backskiste an Steuerbord gezogen, er setzte sich und Gru sah seine Augen in den huschenden Reflexen des Kielwassers. "Ich werde Dir meine Geschichte erzählen, weil Du der einzige Mensch bist, der mir glauben kann, und weil ich denke, dass du auch verstehen wirst, was ich dir sage. Ich kenne dich nicht, aber ich habe dich gekannt, bevor ich zu dir kam." Gru griff zum Mikro in der Steuersäule. "Hier nimm das, wir zeichnen deine Geschichte auf, sonst vergesse ich sie und außerdem, mir glaubt sowieso keiner. Der Recorder vom Logbuch startet sofort, wenn du sprichst!" Eine Weile hielt sie ihm das Mikrofon hin bis Spencer endlich ihre Hand nahm und es aus ihren Fingern löste: "Ich weiß nicht, was das ist, aber ich vertraue dir." - Das ist ein Mikrofon, in das sprechen wir über unsere Beobachtungen und über alles, was passiert. Du hast doch gesehen, wie Chris… ach nein, du hast geschlafen, also wir speichern die Sprache und die Geräusche in einem elektronischen Logbuch, dann können wir später alles hören und auszugsweise aufschreiben. Deine Stimme wird aufgezeichnet - also,was soll ich dir noch sagen!? - Du musst das fest in der Hand halten, oder besser, häng es dir um den Hals!"
Gru konnte nicht ahnen, dass ihr Weltbild bald auf dem Kopf stehen sollte.

Als spräche er zu sich selbst, versuchte Spencer den Anfang zu finden. Er sprach sehr leise, und Gru unterbrach ihn mehrmals bis er seinen Weg gefunden hatte. Er machte immer wieder Pausen und suchte nach Worten, um zu beschreiben, was nahezu unbeschreiblich sein mochte. Gru warf wiederholt Begriffe ein, von denen sie meinte, dass sie den Sinn seiner Darlegungen treffen würden. So entstand ein Text aus dem Logbuch der Bruden, der über die unmittelbare Begegnung mit Spencer hinauswirkt.

"Es war im Jahr 1703" begann Spencer nachdenklich, "als ich als Geograf auf einem Erkundungsschiff, dessen Name ich vergessen habe und der auch nicht am Dingi zu finden ist, eine Reise zu den atlantischen Inseln unternahm. Ich sollte wohl im Auftrag der Nationalen Geographischen Gesellschaft, ja, es muss so gewesen sein, die atlantischen Inseln für neue Karten vermessen. Ich meine, mich zu erinnern, dass ich zuerst eine Inselgruppe weiter im Norden besuchte. Entschuldige bitte, Gru, aber das ist alles sehr schwierig für mich. Du musst wissen, dass ich keine Identität mit mir empfinde. Ich habe fast keine Erinnerung, und meine Erzählung kommt aus dem Wissen, das ich mir angeeignet habe, und ich weiß auch nicht, ob dieses Wissen richtig ist. Ich weiß nicht, wer ich bin. Ich weiß nur, dass ich bin. - Das Jahr 1703 habe ich in Aufzeichnungen gefunden, die nur ich angefertigt haben kann. Alles, was mich zu meiner Vergangenheit hätte führen können, musste ich zurücklassen, bevor ich zu Euch kam. Nun, ich kam mit dem Schiff zu diesen äußeren Inseln und ich wollte mit einem Eiland beginnen, dass wir als das letzte der Inseln im Westen entdeckt hatten. Wir waren weit nach Westen gesegelt und hatten keine anderen Inseln mehr gesehen. Als wir uns während der Rückreise der Insel näherten, brach ein Unwetter los. Weit vor der Küste gerieten wir in ein Labyrinth aus Felsen und das Schiff zerschellte. Es war schrecklich und unheimlich, weil niemand die Felsen vorher gesehen hatte, sie tauchten wie von Geisterhand plötzlich um uns herum auf. Nichts war mehr da als tobende See, und ich weiß nicht wie es mir gelang, in das Dingi zu klettern. Das Unwetter war genau so plötzlich vorbei wie es gekommen war. Tagelang trieb ich umher, und immer sah ich im Südwesten eine lang gestreckte Insel, die von Tag zu Tag näher kam. Endlich erreichte ich hinter einem Riff aus Felsen einen Strand. Nur eine ganz enge Stelle, die ich zufällig entdeckte, führte durch das Riff. Ich hatte mehr gefühlt als gesehen, wie das Riff sich hinter mir wieder schloss. Dann erwachte ich in einer anderen Welt.

Wenn es ein Raum war, dann war es ein schöner Raum. Ich war in Helligkeit gebadet. Ich sage bewusst nicht Licht, weil es keine Lichtquelle gab. Ich war in einer grenzenlosen Helligkeit, die mich bis in mein Inneres umgab. Manchmal kam etwas auf mich zu und dann schlief ich lange, und irgendwann verlor ich das Denken als das was ich war. Ich hatte keine Identität mit mir selbst, keinen Anfang und kein Ende, ich war nur noch. Es gibt keine Zeit, keine Dauer für meinen Zustand. Es waren vielleicht Millionen Jahre, vielleicht aber auch nur Sekunden, in denen ich mich so befand. Aber dann änderte sich mein Befinden. Ich nahm etwas anderes als Helligkeit wahr, etwas berührte mich und ich konnte mich auf etwas anderes beziehen. Ich war nicht allein! Heute muss ich sagen, dass ich nie Angst hatte. Heute habe ich Angst, und ich muss meine ganze Kraft aufbieten, dass ich mich so verhalte, wie du und Chris es von mir erwarten. Ich habe das gelernt! Aber damals - nein, ich war in einer großen Ruhe, ich war leer, ich hatte kein Wissen."

Spencer war sehr erregt. Er streckte seine Arme zu Gru aus und sie hielt ihm ihre Hände entgegen. Viele Male ergriff er eine Hand und ließ sie schnell wieder fahren. Es entspann sich ein sonderbarer Dialog der beiden Körper. Spencer zog Gru in eine Welt, die sein Inneres mit aller Macht zusammenhielt. Er erzählte ihr von Wesen, denen er begegnete und über ein grenzenloses Wissen. Er erschloss sich dieses Wissen mit dem Entwickeln von Mustern, so wie die Wesen ihn, sein Bewusstsein gebildet hatten.

Gru fühlte immer mehr, wie eine tiefe Ruhe über sie kam. Er hypnotisiert mich, dachte sie einmal, aber sie war sich ihrer voll bewusst. Das war kein Wahnsinniger! Das war eine andere Realität! "Sag mir doch, wer sind sie, diese Wesen!" - "Ich weiß es nicht mehr, vielleicht habe ich es gewusst. Sie sind vielleicht überhaupt nicht so existent, wie ich sie gesehen habe, oder ich habe sie mir erdacht. Ich weiß es nicht! Aber sie sind überall, und sie beherrschen Raum und Zeit. Sie bewegen sich nicht und können trotzdem gleichzeitig an vielen Orten sein." "Und wie beherrschen sie Raum und Zeit?" Gru merkte, dass sie auf einer Spur in diesem Gedankengewirr war. "Siehst du, alles existiert aus Schwere und Nichtschwere, alles ist zwischen unendlich schwer und unendlich leicht, das wandelt sich ständig um, und mit der Schwere kann ich das Leichte und mit dem Leichten das Schwere steuern." - "Warum ist deine kleine Kugel so schwer?" Gru sah sich auf dem Weg zu einer Erkenntnis.
"Ja, die Kugel, sie ist ein Geschenk, das einzige, das sie mir mitgegeben haben, abgesehen von meinem Dingi. Die Kugel enthält schwere Materie. Ich nenne es so, obwohl es keine Materie ist. Es ist vielmehr ein Ort unendlicher Gravitation, der in der Kugel kreist. Es gibt unendlich viele Orte kreisender Gravitation, ja, sie bilden Materie, Atome, Sonnen und Galaxien. In der Kugel ist die Gravitation gefangen und um das zu ermöglichen, muss die Kugel sehr dicht sein. Deshalb ist sie so schwer. Sie ist hier so schwer, in einer anderen Welt ist sie anders schwer." Gru schluckte. Sie hatte zwar ein Hochschulstudium als Ärztin abgeschlossen und arbeitete in der Versorgung der Mannschaften auf Bohrinseln und Förderplattformen in der Nordsee. Aber das hier ging an ihrem Vorstellungsvermögen vorbei: "Wo kommt die Kugel her, was ist das für ein Material?" - "Das kann ich dir nicht erklären, aber ich meine mich zu erinnern, dass es Orte gibt, zwischen den Galaxien, oder in anderen Welten, wo Kugeln dieser Art entstehen. Sie haben eine große Masse, und sie werden benutzt, um kleinere Kugeln zu schaffen, mit denen Raum und Zeit beherrscht werden. "Kannst du das?" Gru zog mit der Frage am Faden, der aus dem Labyrinth führen sollte. "Ich habe es noch nie versucht, aber ich denke, dass ich es kann." Spencer kroch unruhig in sich zusammen und fügte hinzu: "aber ich werde es nicht versuchen! Ich habe die Muster des Denkens, mein Denken wird dazu führen, dass sich die Kugel dreht, wenn ich nicht mehr denke, zerbricht sie." Er sprach nicht weiter. Für die Dauer eines Augenblicks war er versucht, sich in sich zurückzuziehen, dann berührte ihn eine Hand. "Erzähl, Spencer, da gibt es doch noch viel mehr, was du mir sagen willst! Warum bist du nicht bei Ihnen geblieben?"

Die Frage kam für Spencer zu gezielt. Er war auf einen Dialog dieser Art nicht eingestellt und musste sich wieder in eine Phase der Beruhigung begeben. Gru wartete. Sie sah ab und zu nach vorn in die Nacht, aber nicht wirklich beteiligt, sie empfand sich immer mehr in den Bann dieses eigenartigen Menschen gezogen, der alles andere zu sein schien als von dieser Welt.

"Sie gehen von hier fort" begann Spencer wieder. "Sie sind seit Anbeginn auf dieser Insel und nun gehen sie fort, weil es keinen Kontakt zu dieser Welt geben kann. Ich verstehe das! Als die ersten Menschen die Insel fanden, waren sie wegen der Schönheit der Landschaft so begeistert, dass sie bleiben wollten. Nur wenige haben die Insel wieder verlassen können. Ich weiß nicht, ob überhaupt jemand wieder in diese Welt zurückkehren konnte, weil die Zeitkonstante sich immer wieder ändert. Und es kann dann nur den Zufall geben oder wie es in meinem Fall war: Sie haben es so gewollt!" - "Was ist das - die Zeitkonstante", warf Gru ein? - "Oh ja, die Zeit?! Früher war die Insel in der Zeit in der wir jetzt sind, aber es ist eigentlich nicht die Zeit, es ist der Raum. Sie haben die Insel aus dem Raum genommen" - "Und wie machen sie das?" - Spencer dachte nach, wie er Gru etwas erklären sollte, zu dem ihm Worte fehlten:" Ich werde es dir so sagen, aber so ist es nicht. Ich habe dir von der Schwere erzählt. Sie wird über die Insel gelegt und verbiegt den Raum in einen Kreis. Wenn der Kreis wieder geöffnet wird, ist die Insel in der Vergangenheit, weil sie Zeit verloren hat, nur eine Winzigkeit reicht, um die Welt zu verlieren. Ja, du kannst die Insel nicht sehen, weil sie immer etwas später, also nach deiner Zeit existiert, aber sie ist dort in der Nacht, nur etwas später." Spencer lehnte sich zurück an die Seereling und starrte Gru an. Er merkte, wie er die Verbindung zu einem Wissen verlor, dass noch vor Kurzem ihm zu eigen war. "Ich kann nicht weiter, Gru, ich muss jetzt ruhen und meine Muster suchen." Spencer kroch zum Deckshaus und sank an der Wand zusammen.

Um halb drei machte die Bruden an der rot-grünen Tonne im Hafen von La Restinga fest.


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