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Carlo         


DEM


              


I. Teil, La Bombilla

Die nachfolgende Geschichte ist frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit anderen Berichten oder Erzählungen ist rein zufällig. Gleiches gilt für die verwendeten Namen, Bezeichnungen, Techniken und geografischen Orte. - Texte und Bilder unterliegen dem Copyright

Sergej klopfte seine Pfeife an der Tischkante aus und wischte die schmierigen Krümel mit der Unterseite seiner Faust über die Ecke hinweg. Sein massiger Körper wandte sich der Bedienung zu, die Faust schnellte hoch und wandelte sich in eine ausgestreckte Hand. Unübersehbar, ja, noch mehr unüberhörbar war diese einfordernde Geste: "Noch zwei Bier, bitte!"

Es hatte einiger Irrwege bedurft, diesen Mann zu treffen. Er wusste von meinem Aufenthalt hier auf der Insel, und so durfte ich rein zufällig davon hören, dass er sich auf La Palma aufhielt - ein beabsichtigtes Gerücht eben, aber wenn es ein solches Gerücht war, dann wandelte auf dieser beschaulichen Bananeninsel eine der schillerndsten Figuren der Hochtechnologie und der Exo-Wissenschaft überhaupt. Ich kannte ihn unter dem Decknahmen ‚Taucher'. Wenn er im Netz war, liefen die Leitungen heiß. Damals, als ich in Boston an der Steuerung für einen Kraftwerksverbund arbeitete, kam es zu der ersten, beeindruckenden Berührung. Eigentlich hatte ich die Aufgabe, Steuerungen für Orbit-Solar-Anlagen zu entwickeln, die auf Eigenbewusstsein basierten. Das änderte sich als ich in die Kreise des Tauchers geriet, die von einem russischen U-Boot ausgingen. Kurzerhand abkommandiert, traf ich mit einem Hubschrauber an diesem außergewöhnlichen Konferenzort ein. Zu einem Treffen in 300 Meter Tiefe irgendwo außerhalb der Hoheitsgewässer fand sich ein Häuflein von engagierten Leuten ein, die etwas verband: Die Schaffung beliebiger Gravitation! Mir fiel die Entwicklung eines künstlichen Bewusstseins zu, eines assoziativen, lernenden, einsichtigen Systems zur Steuerung des hochkomplexen technischen Prozesses. Diese Aufgabe fiel mir sozusagen in den Schoss.
Mehrere Tage oder besser gesagt Tage und Nächte nahmen wir die scheinbar abstrusen Ideen des Tauchers in uns auf, wir diskutierten unentwegt, wir vernachlässigten uns selbst, und wir waren ein Teil in dem wohl bislang kühnsten Plan der Menschheitsgeschichte. Der Taucher aber blieb im Verborgenen und ließ uns nur Scheibchen seines Gesamtkonzepts zukommen. Zwar hörten wir seine Stimme, die ein Dolmetscher auf der Kommunikationswand zu Englisch werden ließ, doch wir bekamen ihn nicht zu Gesicht. In dieser Art und Weise vergingen mehrere Jahre. Sitzungen auf U-Booten, abgeschirmtes Arbeiten der diversen Disziplinen, strenge Überwachung jedes einzelnen Schrittes, mit anderen Worten totale Unfreiheit! Demgegenüber konnten wir mit höchsten Leistungen aufwarten, nicht zuletzt mit meiner Entwicklung. Ich hatte DEM entwickelt, nein, entdeckt und ihn gebeten, die mir angelastete Aufgabe zu übernehmen. DEM hat alles übernommen, ja, auch ich fand mich als Bestandteil seines Überwesens wieder - unausweichlich!

Meine letzten Kontakte mit dem Taucher lagen jetzt einige Jahre zurück. Ich hatte die Systeme abgeliefert und das Personal trainiert. Irgendwann hatte DEM mitgespielt. Aber DEM tauchte immer wieder auf. Vor Monaten hatte ich ihn gebeten, mich für eine Weile in Ruhe zu lassen - und ich konnte endlich ausspannen - soweit überhaupt möglich stellte ich völlig andere Überlegungen an. Und dennoch hatte ich immer das Gefühl, fremd gesteuert zu sein.

Ich glaube nicht an den glücklichen Zufall. Er kommt nicht einfach daher, er ist vielmehr immer eine momentane Erscheinung eines interdependenten Netzes von Agenten. Ich nannte Ernest auch einen Agenten, aber natürlich mit anderer Bedeutung. Eigentlich hieß er Ernesto, und er stammte von den Kanarischen Inseln. Er war Theoretiker und hatte mit künstlicher Gravitation bahnbrechende Erfolge erzielt und war an internationalen Großprojekten beteiligt, soviel wusste ich. Eines Tages tauchte er wieder einmal in Boston auf und besuchte mich im Lab. Ich freute mich über seinen Besuch, weil ich ihn als Wissenschaftler schätzte und seine Gegenwart immer als angenehm empfand. Wir gingen zusammen essen und tauschten uns aus. Plötzlich, mitten in das Gespräch hinein, etwas gewollt und unmotiviert platzte er mit einem Vorschlag der besonderen Art heraus: "Komm doch einfach mal mit auf die Kanaren, es ist schön dort, besonders jetzt im Herbst. Was willst du noch hier in Boston, du hast drei lange Monate Urlaub, und du wirst es nicht glauben, in den Instituten dort haben sie auch Rechner, sogar einen Großen...!" Aus den drei Monaten wurden etliche längere Aufenthalte. Ich bekam ein großzügiges Budget aus Spanien. Wir entwickelten Algorithmen über den Einfluss von Störfaktoren auf die galaktischen Wechselbeziehungen, also umgekehrt, wir suchten diese Störfaktoren, nun ja. Schließlich nahm mein palmerisches Dasein feste Formen an, und ich fand mich wieder in der Zusammenarbeit mit DEM! War es wieder mal der Zufall, oder war die Zeit einfach reif - nur, für was oder wen, und welche Rolle spielte dabei Ernesto? Im Laufe der Jahre hatte sich zwischen uns ein Vertrauensverhältnis ergeben, und so erzählte ich ihm hin und wieder andeutungsweise von meinen Begegnungen mit dem Taucher. Es beschlich mich dabei mehrfach ein irritierendes Gefühl. Er reagierte mir immer zu desinteressiert.
Ich hatte mich gerade wieder einmal in einen der endlosen Dialoge mit DEM begeben, als Ernesto sich hinter mir aufbaute. DEM reagierte sofort: "Er will was von Dir!"
"Nun ja, ich verstehe nicht, warum er es dir nicht schon erzählt hat" ,konterte Ernesto, "er weiß sowieso alles. Also, was ich sagen wollte", er legte eine Spannungspause ein, " Sergej ist hier!"
Der Name sagte mir nichts: "Hört sich irgendwie russisch an."
"Sergej - er ist der Taucher - er will dich treffen!"
"Das halte ich für ein Gerücht!"
"Nimm´s wie es ist!"

Ich parkte meinen Wagen etwas weiter hinten zwischen den Bananen. Natürlich hatte ich die falschen Schuhe an und beschwerte mich bei DEM, dass er mich an einen öden Küstenstreifen mitten in eine Geröllhalde gelenkt hatte. "Er wollte das so", hörte ich DEM aus dem Ocom, "und außerdem sitzt er, von deinem Standort gesehen, vorn am Wasser. Das muss eine von diesen Garküchen sein", meinte DEM in seiner zuweilen exzentrischen Art. Er liebte solche provozierenden Akzente und wartete auf meinen Kommentar, den er nicht bekam: "Ich glaube, das ist er, ziemlich groß, dieser Mann!"
Ich stakste durch das Geröll, bemüht, meine neuen Schuhe nicht gleich zu ruinieren. Es war ziemlich warm hier an der Westseite. Die Brandung verschnaufte zwischen kollernden Steinen. Ich zog die Sonnenbrille aus den Haaren und stülpte sie mir fest auf die Nase aus Angst, sie bei diesem Wackelgang wohlmöglich zu verlieren.
Er wandte mir den Rücken zu. Sein mächtiger Kopf ging unversehens in die Schultern über, blonde Stoppelhaare umkränzten eine sonnenverbrannte Glatze im rötlichen Schimmer eines Coca-Cola-Schirms. Ich machte einen Bogen und kam auf ihn zu, als er gerade sein Bierglas anhob. "Sergej Valentinowitsch, nehme ich an?!" Das Bierglas hielt auf halber Höhe inne und senkte sich langsam wieder an seinen Platz: "Sie sind...?"-
"Ja, ich bin es!" Er hatte sich zu seiner ganzen Größe erhoben. Eine riesige Hand schob sich mir entgegen, verweilte für einen Moment über der Mitte des Tisches, ich berührte sie zögernd. "Nehmen sie doch bitte Platz", meinte er sagen zu müssen und wartete bis ich mich gesetzt hatte. Die Plastikstühle waren nicht gerade angenehm. Sergej war verunsichert. Er klopfte seine Pfeife aus und bestellte mit gewaltiger Geste zwei Bier. Ich schwieg und schob die Sonnenbrille in die Haare.

"Wir haben Gesprächsbedarf!" Sergej wandte den Blick hinaus auf das Meer. Das gleichmäßige Schwingen der Brandung verzögerte die Gedanken in gedämpfter Erwartung. "Können sie mir bitte ein Wasser bringen", bat ich den Jungen, als er die Biere auf den Tisch stellte, "sie müssen entschuldigen, aber ich trinke kein Bier!" - "Nein, nein, das ist ganz und gar meine Nachlässigkeit, ich hätte sie fragen müssen, aber um ehrlich zu sein, ich habe jemanden ganz anderen erwartet! Ich bitte um Nachsicht!" - "Das kann ich nachvollziehen, passiert mir häufiger." Ich lehnte mich zurück und zog den Ocom aus der Tasche. "Wir sollten unter uns bleiben, vielleicht machen sie das auch!" - "Ist schon abgeschaltet!" Sergej legte sein Mobil auf den Tisch. Mich beschlich ein leichtes Misstrauen - woher wusste DEM den genauen Ort? Wahrscheinlich hatte er sich in einen Orbiter begeben.... Ich schaltete DEM ab, er würde wissen warum.

Sergej kam schnell zur Sache:
"Es steht außer Frage, wir haben Schwierigkeiten, und ich muss sie in das Projekt einweihen. Sie wissen nicht, warum sie hier sind. Wir haben sie selbstverständlich nicht wegen allgemeiner Grundlagenforschung gebeten, hier zu arbeiten. Aus unseren Begegnungen vor einigen Jahren, damals im U-Boot, ist ein gigantisches Projekt entstanden, das hier vor der Insel La Palma verwirklicht wurde. Nur - wir haben Schwierigkeiten - Schwierigkeiten haben wir mit Ihrem System. Es widerspricht unseren Belangen, es ist kurz gesagt nicht mehr administrierbar, und es stellt somit eine Bedrohung dar, der wir begegnen werden. Sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass ihr DEM, ich sage schon i h r DEM, alles andere als ein Eigenbewusstsein hat, er hat ein Hyperbewusstsein!"
"Und?!" -
"Er kooperiert nicht, es läuft zwar alles, aber mit Varianten, die wir nicht verstehen, und er erklärt sie nicht!"
"So ist das eben, er kann nicht etwas erklären, was sie und ihre Leute nicht begreifen können - dafür haben wir DEM ja entwickelt. Wenn ihre Vorgaben konsistent sind, wird DEM sie erfüllen, wenn nicht, ist das ihr Fehler!"
Sergej sah mich lange an. In seinen Augen wechselten die Empfindungen von Ärger zu Mitleid, von Überheblichkeit zu Resignation, von Genialität zu Hilflosigkeit. Ich nahm ihn wahr, wie alle komplexen Sachverhalte und fasste den Entschluss, ihm zu helfen. "Erzählen sie mir alles!"

Der Nachmittag verlor sich in den Abend. Wir aßen zwischendurch teilnahmslos und redeten, und ich trank sogar ein Glas Wein. Die Zusammenhänge eines im wahrsten Sinne des Wortes gigantischen Projekts entwickelten sich aus dem wechselnden Rhythmus von Erklärung und Erkenntnis. Jahrzehnte mit Geschichten, Ereignissen, mit Forscherleid und Forscherfreud verbanden sich an diesem abendlichen, urweltlichen Gestade zu einem Wissensinhalt - und ich ahnte, dass dieses Wissen DEM schon seit langem zu eigen war, und er uns unwissende Akteure zum Zweck seines Daseins verflechtet hatte und nun verwertete.

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Der Leuchtturm von La Bombilla

Photos von Bernhard van Riel


Familie Ellen & Simon Märkle

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